Die Schweiz gehört weltweit zu den Vorzeigestaaten im Bildungsbereich, trotzdem findet man auch hier Regionen wo sich das Bildungsgesetz nicht so einfach umsetzen lässt. Neun Jahre sind obligatorisch, der Unterricht steht allen kostenlos zur Verfügung.

Auf der Suche nach einem abgeschiedenen Ort hat mich das Projekt in den Kanton Graubünden geführt. Ich befinde mich in der Gemeinde Avers, die höchstgelegenste Gemeinde Europas. Auf einer Fläche von 9000 ha leben 174 Personen. Zum nächsten grösseren Ort dauert die Autofahrt rund 30 Minuten.

Der altersübergreifende Unterricht stellt die Lehrer vor besondere Herausforderungen.

AVERS

Die Gemeinde Avers besteht aus fünf Weilern, wobei der tiefste Avers-Campsut auf 1668 M.ü.M und der höchste Avers-Juf auf 2126 M.ü.M. liegt. 458 Höhenmeter Unterschied! Alle Kinder aus dieser Gemeinde besuchen die Schule in Avers-Cresta, es ist zugleich der Hauptort und liegt etwa in der Mitte der Gemeinde. Um eine vom Kanton finanzierte Schule zu betreiben, müssen mindestens fünf schulpflichtige Kinder vorhanden sein. Sind es weniger, wird die Schule geschlossen oder kann nur noch als Privatschule weitergeführt werden.

Elf Kinder besuchen in Cresta die Schule bis zur 6. Klasse. Danach gehen die Kinder in der Regel im 20 Kilometer entfernten Dorf Andeer zum Unterricht. Sind mehr als zehn schulpflichtige Kinder vorhanden, ermöglicht dies die Klasse für die Hauptfächer wie Mathematik und Sprachen in eine 1.-3. und 4.-6. Klasse aufzuteilen. Sind es weniger als zehn Kinder werden die Klassen zusammengelegt, so dass der Unterricht gemeinsam erfolgt. Eine grosse Herausforderung für die Lehrpersonen, die gleichzeitig mit Kindern unterschiedlichen Alters und Bedürfnissen umgehen müssen. 

Die Schule

Zur Zeit finden drei Personen mit einem Gesamtpensum von 150% Stellenprozent Arbeit an der Schule. Es ist schwierig kompetente Lehrer zu finden, die in dieser abgeschiedenen Region unterrichten und leben möchten. In der Regel arbeiten Personen aus der Gemeinde für die Schule. 

Der altersübergreifende Unterricht stellt die Lehrer vor besondere Herausforderungen. Jedes Kind muss individuell behandelt und zugleich auf jedes Rücksicht genommen werden.

Ich sitze im Lehrerzimmer, dass aus einem grossen hölzernen Tisch mit den dazu passenden Stühlen, einer Vitrine mit alten Auszeichnungen und ein paar Computern besteht. Eine der aktiven Lehrerinnen, Frau Höllrigl, erzählt mir vom Leben im Dorf, wie es einst eine Post und Bank gab, beide aber aus finanziellen Gründen geschlossen wurden. Und nun in einem reduzierten Angebot oder auf terminliche Vereinbarung zur Verfügung stehen. Als Beispiel muss der Postbote telefonisch bestellt werden, wenn man ein Paket zu verschicken hat. Auch der Dorfladen kämpft um das Überleben. Frau Höllrigl ist sich sicher, solange es einen Dorfladen und vor allem eine Schule in der Gemeinde gibt, bleiben die Familien in der Gegend. Verschwindet beides aus dem Tal, sieht die Zukunft düster aus.

Der Unterrichtsplan ist auf den Fahrplan des Postautos abgestimmt. Die ersten Schüler treffen von unten kommend, um 7:45 Uhr ein. Während das Postauto auf der Rückfahrt die Kinder von oben um circa 8:15 Uhr mitbringt.  Sobald sich alle versammelt haben, beginnt der Schulunterricht. 

Untereinander scheint es bei den Schülern trotz des Altersunterschieds – sechs bis zwölf Jahre – zu harmonieren. Trotzdem ist es den Kindern selten möglich sich in der Freizeit zu treffen. Die Höhendifferenz zwischen den Weilern ist mit seinen 485 Metern gewaltig.

Die Schule ist gut in das Dorfleben integriert. Der Unterricht ist sehr familiär, denn jeder kennt jeden in dieser Gemeinde.

Hingebungsvoll werden die Schüler unterrichtet. Die Kinder von Avers erhalten Unterricht in den Fächern Deutsch, Italienisch, Englisch, Mathematik, Zeichnen, Geschichte/Geografie, Religion, Musik und Sport. Während meinem Besuch erlebe ich den Unterricht hautnah und es zeigt sich, dass es durchaus sinnvoll ist die Fächer miteinander zu verflechten. So erfolgt beispielsweise der Mathematikunterricht teils in Italienisch statt auf Deutsch. 

Auf meinem Rundgang durch die Klassenzimmer fand ich es wieder. Die Spielecke mit dem Einkaufsladen zum Spielen. Wie schon in Namibia und der Türkei lernen die Kinder spielerisch mit Zahlen umzugehen. Desweiteren wird dem Kind der Umgang mit Geld näher gebracht. Was sind zwei Schweizer Franken? Was bekomme ich dafür? Ein Konzept das auf der ganzen Welt seinen Einsatz findet. Auch sonst stehen den Kindern unzählige Spielsachen zur Verfügung. Spielen bildet einen wichtigen Teil in der sozialen Entwicklung. Kinder lernen dabei zu teilen und miteinander zu sein.

AVERS

Staat : Schweiz
Kanton : Graubünden
Fläche : 93,14km2
Einwohner : 171 (31. Dezember 2013)
Dichte : 2 Einw. pro km2
Daten von wikipedia

Vielfältige Schule

Die Klassenzimmer befinden sich im ersten Stock, sind hell und mit einer grossen Wandtafel ausgestattet. Im ganzen Zimmer sind Zeichnungen der Kinder angebracht. Zeichnungen über ihre Lieblingstiere,… Im Erdgeschoss befindet sich nebst dem Lehrerzimmer die Schulküche. Ganz neu eingerichtet wurde sie durch private Spenden finanziert und verfügt über alles, was sich ein Koch wünscht.

Einen Stock weiter unten befinden wir uns im Keller. Hier befindet sich das Werkunterrichtszimmer, wo sich die Kinder handwerklich und kreativ entfalten können. Ich selber war immer gerne im Handwerksunterricht, ich hatte ich meinen Spass bei der Arbeit und entdeckte so meine kreative Seite. Beim Betreten des Zimmers funkeln meine Augen, eine Seifenkiste stand fixfertig vor mir. Eine der letzten Klasse hatte sie angefertigt. Leider sind die finanziellen Mittel wie vielerorts limitiert, weswegen es eher selten sein dürfte, dass man im Unterricht eine Seifenkiste baut. Der Spielraum für dieses Fach ist gross, gross genug um zum Beispiel Windspiele, Schachbretter oder – ich mag mich noch daran erinnern – Lautsprecher bauen zu können.

Die am Gebäude angebaute Turnhalle ist gross und modern. Die Schüler befinden sich in der Pause, während dem ich die einzelnen Portraitfotos erstelle. Es ist interessant zu hören das Sport für viele das Lieblingsfach ist. Ebenso erfahre ich, dass viele Eltern in Landwirtschaftsbetrieben oder für das örtliche Stauwerk tätig sind. Die Einwohnerzahl der Gemeinde hat sich in den letzten Jahren kaum verändert. Ab und zu gehen jüngere auf der Suche nach Arbeit weg von Avers, kehren dann aber nach einiger Zeit zurück. 

Nach einem halben Tag in der Schule von Avers breche ich auf in Richtung Zürich. Bevor ich den Weiler Avers-Cresta verlasse, halte ich noch im Dorfladen. Klein und überschaubar bietet er alles was man für den alltäglichen Bedarf benötigt. Ich verpasse die Chance nicht und kaufe ein paar lokale Produkte ein.

Die kurvige Strasse führt mich zurück in die Zivilisation. Ich hatte einen spannenden Einblick in das Dorfleben der Gemeinde. Wie ein eigenes, kleines Ökosystem scheint dort alles autonom zu funktionieren. In der Hoffnung, dass der Dorfladen erhalten bleibt und es immer genügend Kinder für einen Schulbetrieb gibt, verlasse ich diesen idyllischen Ort.