Es hat einige Monate gedauert bis hier hin. Lange habe ich darum gekämpft eine Zutrittserlaubnis zu erhalten und jetzt stehe ich hier, am Haupteingang zum weltweit grössten Flüchtlingscamp Al Zaatari in Jordanien.

Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien sind zwei Jahre vergangen und Zaatari hat sich längst zu einem Hotspot für Flüchtende entwickelt. Noch immer gibt es täglich neue Zugänge und so wächst das Lager von Monat zu Monat.

Von den gut 25’000 schulpflichtigen Kindern sind 20’000 für den Schulunterricht registriert. Schulplätze vorhanden sind jedoch nur 16’000.

Al Zaatari

Zaatari ist ein Syrisches Flüchtlingscamp, welches sechs Kilometer von der Syrischen Grenze entfernt liegt. Es ist eines der weltweit grössten Flüchtlingscamps und entwickelt sich nach Jahren des Krieges zu einer festen Siedlung. Seit 2012 bestehend finden hier vom Bürgerkrieg in Syrien flüchtende Personen ein neues Zuhause. Das Lager zählt mehr als 80’000 Einwohner und untersteht der Koordination des Flüchtlingwerkes der Vereinten Nationen UNCHR.

Im Büro von Herrn Arabeyat

Vor gut einem Monat erhielt ich von der UNICEF die definitive Zustimmung für ein Interview, sowie die Erlaubnis eine Schule im Camp zu besuchen. Die Zustimmung von UNICEF alleine genügte jedoch nicht, eine schriftliche Zustimmungserklärung des Pressebüros von Jordanien in Amman musste her. Hier kam Ayman Arabeyat ins Spiel. Ein Jordanier, ich schätze ihn um die 42, mit Anzug und Schnurrbart, hat mir die notwendige Erlaubnis ausgestellt. Nach wochenlangem E-Mail-Verkehr habe ich ihn gestern kennengelernt und das Bewilligungsschreiben erhalten. Um sich sein Arbeitszimmer vorstellen zu können, nimmt man am besten ein Zimmer mit den Massen 5×5 Meter und einer Raumhöhe mit drei Metern. An einer Seite des Raums befindet sich eine verstaubte und vergitterte Fensterfront, ein olivgrüner Vorhang flankiert die rechte Seite – zwei Schränke, zwei Arbeitsplätze mit Desktop-Computern und sechs abgenützte rote Sessel befinden sich in der Mitte des Raumes. Einer der Computer wird von seiner Sekretärin benützt. 

Es ist still im Raum, nur das Klicken der Maus und das ewige Surren der Computerlüftung ist zu hören. Ab und zu trifft mich ein prüfender Blick der Sekretärin. Ein merkwürdiger Moment – in diesem Büro gingen seit Beginn der Syrienkrise mehr als 2200 Journalisten ein und aus, die meisten davon in der Zeit vom September bis Oktober 2013, als die USA mit einem Militärschlag gegen Syrien drohte. Herr Ayman erzählt mir wie in den ersten Tagen gut 2’000 Flüchtlinge über die Grenze kamen, es aber bis Ende 2012 schon 18’000 waren und im darauf folgenden Jahr 140’000. Wie bei den Journalisten sind im Zeitraum von September bis Oktober 2013 auch die meisten Personen über die Grenze geflohen. Im Durchschnitt waren dies 3’000 pro Tag.

Im Flüchtlingslager angekommen

Am Haupteingang zum Camp angelangt erfahre ich nun, dass nur ich die Zutrittserlaubnis habe und mein jordanischer Fahrer draussen bleiben muss. Ich ging davon aus, dass dessen Zutritt ebenfalls geregelt sei. Ich dachte mir nichts weiter dabei, verabschiedete ich mich von ihm und ging 500 Meter zu Fuss zum zweiten Kontrollposten. Dort angekommen zeigte ich meine Erlaubnis einem der Polizisten, der mich genauestens musterte. Nachdem zwei weitere Personen die Bewilligung kontrolliert haben, erhielt ich die Aufforderung einer Strasse im Camp bis zum Base Camp der UN zu folgen. Im Base Camp traf ich dann endlich Melanie Sharpe. Die letzten sieben Monate hat sie in Jordanien im Auftrag der UNICEF als Communication Officer gearbeitet und wird mich nun zu einer der drei Schulen im Flüchtlingscamp begleiten.

Das Schulsystem in Zaatari

Von den gut 25’000 schulpflichtigen Kindern sind 20’000 für den Schulunterricht registriert. Schulplätze vorhanden sind jedoch nur 16’000. Deshalb versucht man das Angebot schnellstmöglich zu erweitern. 

Der Schulbesuch sowie Unterkunft und Mahlzeiten sind kostenlos und werden durch die Organisationen UNHCR/UNICEF sichergestellt. Weitere Partner wie Save the Children sind beim Betrieb des Camps involviert. Es ist zwingend nötig, dass allen Kindern ein Schulbesuch ermöglicht wird. Auf den staubigen Strassen habe ich fünfzig Meter vor dem Base Camp achtjährige Kinder beobachtet, die Zigaretten verkaufen. Die UNICEF ist beauftragt den Unterricht für schulpflichtige Kinder im Alter von 6 bis 18 Jahren sicherzustellen. Junge Erwachsene sind ausserhalb des Verantwortungsbereich der Organisation. Wer also nach Abschluss des 12. Schuljahres an einer High-School oder Universität studieren möchte, muss Geld haben – wie ich später erfahren werde, ist dass das Letzte, was hier vorhanden ist. 

Der Unterricht wird gemäss dem jordanischen Lehrplan geführt. Nebst Arabisch, Mathematik, Physik und weiteren Fächern wird hier auch Englisch unterrichtet. Etwas das im Lehrplan von Syrien nicht zu finden ist. Kaum jemand auf den Strassen des Camps spricht Englisch, eigentlich niemand. Da es syrischen Staatsangehörigen nicht erlaubt ist in Jordanien zu arbeiten, wird der Schulunterricht von einheimischen Lehrkräften unterrichtet. Es besteht aber die Möglichkeit, dass Lehrer aus Syrien den Unterricht auf freiwilliger Basis (ohne Entgelt) unterstützen. 

Syrien

Fläche : 185.180 km²
Einwohner : 17,1 Millionen (Schätzungen 2019)
Dichte : 92 Einwohner pro km²
Daten von wikipedia

Melanie Sharpe erzählt mir, dass UNICEF alle Schulmaterialien zur Verfügung stellt. Die erste Schule eröffnete bereits zwei Monate nach Beginn der Krise. Unzählige Container, Schulbänke und Tische wurden herbei geschafft. Schulbücher und Uniformen hat man bei der jordanischen Behörde eingekauft. Alles was man so braucht um eine Schule betreiben zu können, wurde hier binnen Wochen organisiert. Dies zeigt wie wichtig es ist, die Unterstützung einer solchen Organisation zu haben. Ich behaupte kaum eine andere Institutionen hätte die Möglichkeit, dass in so kurzer Zeit zu bewerkstelligen. 

Die Schule Nummer 3

Nach einem kurzen Gespräch mit Melanie Sharpe geht es auf zur Schule Nummer drei. Es ist die neueste und befindet sich am anderen Ende. Auf der Fahrt im Auto bekomme ich einen ersten Eindruck von der Grösse des Camps. Soweit das Auge reicht reiht sich ein Zelt an das nächste, ab und zu eine sehe ich eine Toilettenanlage oder ein Spielplatz. Das Ausmass ist riesig und das alles hier im nirgendwo, in der Wüste von Jordanien.

Die Schule Nummer drei wird von Frau Sabah und ihren zwei Sekretärinnen geführt, dazu kommen 27 Lehrer, welche für den Unterricht von 500 Schülern verantwortlich sind. Die Klassengrössen, welche ich gesehen habe lagen zwischen 35 und 40 Kindern. In den Klassenzimmern ist kaum noch freier Platz vorhanden, einige der Kinder teilen sich sogar eine Schulbank. Hier auf dem Kiesplatz der Schule stehen um die 30 weisse Container mit vergitterten Fenstern, etwas weiter hinten befindet sich ein Spielplatz. Es ist sauber und im Grossen und Ganzen vermittelt die Schule einen guten Eindruck. 

Im Container des Sekretariats lerne ich zwei Schülerinnen kennen. Es sind keine Jungs in der Schule, diese kommen erst nachmittags, wenn die Mädchen frei haben. Heba und Roula sind 16 Jahre jung und im Moment in der zehnten Klasse. Beide mögen die Schule und sind froh über die Möglichkeit hierher zu kommen. Neue Freunde haben sie ebenfalls gefunden. Vor einigen Monaten sind beide Mädchen mit ihren Eltern und Geschwistern aus Damaskus nach Jordanien geflüchtet, wobei der Vater von Roula ums Leben kam. Auf die Frage was sie der Welt sagen möchte antwortet Roula, dass sie auf die zahlreiche Unterstützung anderer Länder hofft, um baldmöglichst den Weg zurück in den Alltag finden zu können. Mit dem Projekt LOST GENERATION macht UNICEF auf diese Problematik aufmerksam.

Leider bleibt nicht mehr Zeit um sich umzusehen, der Schulbetrieb ist in vollem Gange und alle Klassenzimmer sind besetzt. Nach einem herzlichen Dankeschön geht es mit dem Auto auf direktem Weg zurück ins Base Camp. Gleich nach der Ankunft verabschiedet sich Melanie Sharpe und die Dolmetscherin, sie haben noch viel Arbeit zu erledigen.

Total Naiv

Nun stehe ich da, in mitten von zigtausenden Flüchtlingen, welche nichts besitzen, bepackt mit einem Rucksack voll Kamera-Equipment, Reisedokumenten und Geld. Im ersten Moment habe ich mir nichts weiter dabei gedacht, war es doch bis anhin problemlos verlaufen. Ich gehe daher anstatt auf direktem Weg nach draussen in einer Strasse nach links und anschliessend noch nach rechts – auf einmal stehe ich ganz unverhofft einer Menschenansammlung gegenüber, die gespannt das Treiben hinter einem Zaun verfolgen. Soweit kein Problem, die älteren Personen waren etwas erstaunt über mein Anwesenheit, akzeptierten mich aber. Doch für die Gruppe Knaben, man mag vielleicht auf “Kinder-Gang” sagen, war ich ein gefundenes Fressen. 

Innert kürzester Zeit war meine Wasserflasche vom Aussenfach des Rucksacks verschwunden. 

Als nächstes angelten zwei Knaben mit einem bekannten Trick meine Geldbörse aus der hinteren Hosentasche – wie dumm war ich sie dorthin zu stecken! Einer der beiden lenkte mich ab indem er vorspielte meine Kamera genauer ansehen zu wollen, währenddessen sich der andere an meiner Geldbörse zu schaffen machte. In all den Jahren in denen ich die Welt bereiste, habe ich noch nie eine solche Situation erlebt. Ich wurde beispielsweise in Afrika oder Indien auch schon von neugierigen Kindern belagert, nur das hier war anders. Das hier war beängstigend! Ich entschied mich daher umgehend umzukehren und das Flüchtlingscamp zu verlassen. Dank einigen Erwachsenen, die meine missliche Lage erkannten und die Knaben darum baten mich in Ruhe zu lassen, wurde ich sie los – doch der Schock sass tief. Was wenn das eine Gruppe Erwachsene gewesen wäre?

Ich verlasse das Camp mit gemischten Gefühlen – zum einen bin ich überwältigt von dem unermüdlichen Einsatz und der damit verbundenen Organisation der UN, zum anderen geschockt über die sozialen Zustände im Flüchtlingscamp. Wie soll es nur mit all den Leuten und insbesondere den Kindern weiter gehen? Eine Verbesserung der Lage in Syrien ist leider noch nicht in Sicht. Ich befürchte, dass die Gewaltbereitschaft und Kriminalität im Lager über längere Zeit drastisch zunehmen wird.